Sunday, March 9, 2008

* Ein Abschnitt aus dem Roman “Lipamäe” von Wimberg

Ein Abschnitt aus dem Roman “Lipamäe” von Wimberg

Ins Deutsch übersetzt von Ahti Saares

Das Wetter war trüb und dämmerig und es türmten sich die Wolken, vom Regenwasser schwarz am Himmel auf. Ich schob für alle Fälle den Riegel am Aussentür vor. Ich ging in das grosse Zimmer, wo der tüchtige Spiegelschrank steht. In die Augen hinein kann man ja nur dank dem Spiegel. Ich kniete vor dem Spiegel.

Ich beugte mich den Spiegel sehr nahe. Ich vertiefte mich mit dem Blick in mein linkes Auge. Versuchte möglichst tief hineninzuschauen. Nach hinten. Nichts anderes. Ich hielt die Augenlider unbewegt.

Das Wogen entstand. Es hebte sich die Leinwand hervor und darauf mit pastellfarbenden Tonen gemalte Landschaft. Da zerschplitterte sie ... und zerfiel.

Da war eine Tür. Schwer, mit Blech überschlagen. Ich war vor dieser Tür und berührte sie mit meiner Fingerspitze. Die war echt. Etwas mit Staub bedeckt und spinnwebig. Ich stoss sie. Die Tür ging auf und es öffnete sich ein langer Korridor dessen Ende nicht zu erkennen war. An der Decke brannten die Lichter. Ich ging den Korridor entlang. Der bretternde Boden quietschte. Die Wände waren hellblau. Ich klopfte mit dem Fingerknöchel - Putz. Hab' ich das schon gesagt, dass der Fussboden quietschte? Ach ja -hab' ich. Ich ging und ging.

Da sah ich die Türen, wieder Türen - an beiden Wänden, alle zehn Meter eine.

Die allererste Tür öffnete sich und es trat ein Riese in den Korridor ein.

"Stopp!" sagte er und seine Stimme dröhnte durch mich.

Der Riese reichte bis an die Decke. Er war mager und blass, sein haarloser Kopf schien riesig und sehr unnatürlich. Er hatte ein blaugraues Hemd mit langen Ärmeln, schwarze Hose und schwarze, schön geputzte Schuhe an.

"Wer bist du?" fragte der Riese langsam und starrte mich mit seinen Augen an.

"Ich bin Jaak, Sohn des Jaaks, der Hofbesitzer von Kassaka." erklärte ich.

Der Riese starrte mich weiter an. Nichts in seinem Gesicht bewegte sich. Da steckte er seine Hand in die Hosentasche und holte den Kamm heraus.

"Nimm diesen Kamm," sagte der Riese und gab den mir.

Ich nahm den Kamm. Dabei berührte ich die Hand des Riesen; die war eiskalt.

"Danke," sagte ich.

"Weisst du, was man damit tun kann?" fragte der Riese.

"Eee...sich das Haar kämmen, zum Beispiel?" schlug ich vor.

"Genau," sagte der Riese, "ich gebe es dir, weil ich, wie du schon sehen kannst, brauche keinen Kamm mehr. Und vergiss es nicht - eine stöhnende Arbeit bringt den Bösen ins Haus."

"Was?"

Aber der Reise sagte weiter nichts. Trat nur in sein Zimmer zurück und schlug sogar die Tür zu. Ich starrte nur den Kamm in meiner Hand. Das war ja ein guter Kamm, schön dicht. So steckte ich das nützliche Ding sorgfältig in die Tasche. Dann ging ich weiter. Soweit ich im Korridor sehen konnte, gab es da nur Türen. Etwas fiel mir langsam ein. Es war schon lange her. Dieselbe Türen.

Ich drückte die Klinke der erstbesten Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt weit. Ich spähte durch den Spalt. Dann öffnete ich die Tür, trat herein und machte die Tür hinter mir zu.

Das Strahlenbündel, in dem die Stäubchen tanzten, beleuchtete das runde Zimmer aus gelbem Marmor. In der Mitte des Zimmers stand ein wunderschönes Puppentheater. Den Vorhang schmückte der glänzende goldene Zickzack eines Blitzes. An beiden Seiten des Vorhangs hebten sich zwei viereckige Türme, die so gestrichen waren, als wären sie aus kleinen Ziegelsteinen gebaut. Die hohen, grünen Blechdächer glitzerten. Der rechte Turm hatte ein rundes Fenster mit einer mehrfarbigen Glasscheibe. Über dieses Fenster, auf dem grünen Blechdach sass ein Zwerg mit einer roten Jacke. Er baumelte mit den Beinen und nagte an der Mohrrübe.

"Jaak!" rief der Zwerg, sprang vom Blechdach herunter, landete mit einem dumpfen Knall auf dem Fussboden und lief schnell über das Zimmer. "Bist du es wirklich? Wieder hierzulande? Ich dachte schon, dass... ich weiss nicht, tot oder so."

"Onkel Kustas!" rief ich, "und das bist wirklich du?"

Wir umarmten.

"Na wer denn noch, wenn nicht ich! Wo warst du denn die ganze Zeit?"

"In der Stadt. Ich studierte."

"Ach ja! Hast studiert!"

"Und du, immer noch mit deinem Theater!"

"Wie kann ich denn anders!"

Wir schauten einander glücklich, wie alte Kameraden an, die die Zeit lange voneinander getrennt hat.

"Aber jetzt Schluss mit dem Blödsinn," sagte Onkel Kustas entschlossen. "Ich habe noch etwa zwei Stunden vor der Abendaufführung Zeit. Komm und feiern wir ein bisschen wie in alten Zeiten. Gehen wir vielleicht auf den Balkon und bewerfen die Menschen mit Eiern?"

"Oh. Das wäre ja toll!" sprang ich vor Freude.

Auf den Balkon konnte man nur durch eine, mit dem dicken und dunkelblauen Vorhang verhüllten Nische gehen. Ohkel Kustas zog die Gardine rasselnd auf und öffnete die Tür. Der nasse und trübe, ein bisschen nach Benzin riechender Meereswind wehte ins Gesicht. Es war bewölkt; der Regen hat gerade aufgehört. Aber der blaue Himmel liess sich schon zwischen den Wolken erblicken und vom Westen konnte man sogar die Sonne sehen. Es herrschte eine dämmerige und trübe Kühle eines Aprilabends.

Onkel Kustas trat auf den Balkon und ich folgte ihm. Wir waren hoch über die Stadt. Es waren Dächer, Dächer, Dächer und weit unten Strassen, Strassen, Strassen zu sehen. Auf den Strassen gingen winzig kleine Menschen und fuhren genauso kleine Autos. Schwach konnte man den Verkehrs- und Strassenlärm wahrnehmen.

"Wir befinden uns im achtundreissigsten Stock," erklärte Onkel Kustas. "Über uns gibt es niemanden mehr."

Ich schwieg. Der kühle und nasse Wind schlug mir ins Gesicht. Das war gut, beruhigend. Besonders nach der Schwüle, dem faulen Geruch und der Dämmerung der Korridore.

"Einmal schlug ich von hier aus einen Hund mit Ei tot," erzählte Onkel Kustas. "Man muss natürlich auch wissen, auf was man zielt. Warte, ich bringe zwei Kartons Eier. (Geht weg.)

Ich lehnte mich über ein Geländer und spuckte runter. Das Geländer war einmal rotfarbig.

Onkel Kustas kam zurück. Er hatte zwei Kartons mit Eiern und zwei Fernröhre in der Hand. "Du musst immer mit der Zeit rechnen, wie lange das Ei fällt. Das sind etwa achteinhalb Sekunden. Wirf ein wenig früher. Und sei nicht so aktiv; du sollst eher die Hand rausstecken und das Ei fallen lassen," lehrte Onkel Kustas. Wir nahmen beide ein Ei und - hui! - los ging's. Die weissen Klumpen sausten in die Tiefe. Wir beobachteten sie durch die Fernröhre. Als Ziel haben wir anscheinend ein und dasselbe Auto ausgewählt und wahrscheinlich auch getroffen. Wir lachten. "Verstecken wir uns ein bisschen," sagte dann Onkel Kustas. Wir nahmen gleich da auf einer Bank Platz. Der Kamerad suhte aus der Busentasche die Möhre heraus.

"Willst du eine Tätovierung haben?" fragte er plötzlich. "Ich kennne da einen, der macht. Billig übrigens und gut. Ich weiss, du bist damit nicht einverstanden, aber sag's besser gleich nicht nein, denk vorher nach."

Ich habe über das Angebot nicht lange nachgedacht. Ich will ja wirklich nicht. Sowas bleibt ja das ganze Leben lang.

"Damals habe ich auch selbst tätoviert."sprach Onkel Kustas. "Ich hab' sogar die Maschine zu Hause. Hab' von einem Freund bekommen. Da habe ich tätowiert. Einmal war ich besoffen, als ich tätovierte. Dem ich es gemacht habe, war selbst auch voll. Na ja, er wollte ja ein Playboybunny auf seinem Arsch haben. Hab's auch gemacht. Dann sind wir eingeschlafen. Am nächstem Morgen kommt der Typ zu mir in die Küche und schimpft, warum ihm der Arsch ja so weh tut. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er in der Nacht wollte. Ich auch nicht. Das war aber lustig. Dann ging die Maschine kaputt und ich hatte auch keine Lust mehr, sie zu reparieren. Liegt übrigens noch jetzt unter dem Bett. Ich ging ja damals schon an die Universität, um Schauspieler zu werden und da hatte ich einfach keine Zeit mehr für die Tätovierungen. Du, werfen wir jetzt noch mal."

Wir standen auf.

"Ich will keine Tätovierung haben," sagte ich.

"Musst' es selber wissen."

Wir nahmen die Eier und liessen sie fallen. Wir trafen die Opfer und haben gelacht. Das war ein fröhliches Lachen.

So verging die Stunde und begann die zweite.

"Du, ich muss mich jetzt vorbereiten," sagte Onkel Kustas.

"Okay."

"Komm mal wieder. Dann machen wir etwas blödes mit Telefon oder wir bestellen uns eine Stripteasetänzerin."

"Okay," sagte ich.

Wir verabschiedeten uns.

Ich stand wieder im Korridor. Ich dachte nicht lange nach, sondern öffnete die gegenüberstehende Tür. Mir strömte ein warmer und angenehm parfümierter Duft entgegen. Ich trat ein und die Tür schloss sich von selbst.

Das Zimmer war klein und dämmrig, fast dunkel. Der ganze Fussboden war mit einem dicken und wolligen Teppich bedeckt. An der Wand stand ein grosses und weiches Sofa. Am Sofa stand ein Nachtschrank, auf dem eine kleine blaue Lampe schwach und bläulich schimmerte. Alle Wände waren mit einem warmen, dunkelroten Samt bedeckt. Es gab keine Fenster. Im hinteren Teil des Zimmers waren nur zwei, einander gegenüberstehende Türöffnungen zu sehen, verhüllt mit irgendeinen schwarzen, undurchsichtigen aber dünnen Vorhängen, die sich in einem Luftzug leise und einladend bewegten. Die Atmosphäre war gemütlich und voll von Intimität. Ich entkleidete mich.

Dann trat ich durch die linke Türöffnung in das nächste Zimmer. Die Vorhänge streichelten angenehm meinen Körper, als ich eintrat.

Plötzlich wurde alles unheimlich hell, so dass ich mit den Augen blinzeln musste, damit sie sich an das Licht gewöhnen konnten. Den ganzen Raum füllende Wolken eines weissen Dampfes hüllten mich; weder Dach, noch die gegenüberstehende Wand waren zu sehen. Das ganze Zimmer war, soweit man sehen konnte, mit den weissgrauen Kacheln bedeckt.

In deisem Raum waren zwei Schwimmbecken eingebaut, ein mit warmem und das andere mit kaltem Wasser.

Ich ging zuerst, ganz vorsichtig, ohne mich zu beeilen in das mit warmem Wasser. Ach! Das war so gut. Dann kletterte ich heraus und sprang in das kalte Wasser. Aha! Ich fühlte mich wohl. Ich war frei.

Ich sah, dass man aus diesem Zimmer immer weiter in die andere gehen konnte. Hier hing vor der Türöffnung ein Stoff aus weissem Wachstuch. Ich schlüpfte in das andere Zimmer.

Ich fand mich mitten der Dunkelheit. Ich hörte, wie das Blut in meinem Kopf pochte. Nichts anderes hab' ich gehört. Ich bewegte mich schrittweise, mit den Händen tastend im Zimmer weiter. Der Raum war gross, sehr gross. Plötzlich habe ich die Richtung verloren. Ich konnte und konnte die gegenüberstehende Wand nicht erreichen. Die Wassertropfen auf meinem Körper verdampften langsam. Ich spürte, dass ich die Wärme ausstrahle. Ich bewegte die Finger vor meinen Augen; ich konnte nichts sehen. Ich begriff, dass ich kein Mensch aus Fleisch und Blut bin, sondern ein Teil der formlosen Dunkelheit.

Ich konnte und konnte die Wand nicht erreichen. Es vergangen die Minuten und Minuten. Ich dachte, dass das Zimmer gar kein Ende hat.

Aber dann... kam die Wand. Ich ging tastend die Wand entlang und suchte nach dem anderen Vorhang. Endlich spürte ich es unter meinen Fingern.

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